„Ein Blick in die Online-Job-Börsen oder die regionalen Tageszeitungen und es wird klar, dass so ziemlich alle Anbieter von Pflegeleistungen, egal ob stationär, ambulant oder auch Kliniken, händeringend nach gut ausgebildetem Pflegepersonal suchen“, mit diesen einleitenden Worten beginnt Wohnbereichsleiterin Nicolle Zwetsch in ihrer Hausarbeit im Rahmen ihrer Weiterbildung im Modul „Führen und Leiten“. In der Hausarbeit setzte sich die 56-jährige mit dem Thema „Mitarbeiterbindung“ auseinander, das Zauberwort für viele Arbeitgeber, um gegen den Fachkräftemangel anzukommen. Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern zehn nach. Personalmangel und Pflegenotstand sind die ganz großen Themen in der Pflege. Durchhalteparolen und Schönrederei helfen nicht mehr weiter.
Die Hausarbeit wurde mit „Sehr gut“ benotet, 1,1 schriftlich und 0,7 in der mündlichen Verteidigung. Darauf ist nicht nur die examinierte Pflegefachkraft stolz, sondern auch Einrichtungsleiterin Steffi Gebel: „Ich durfte die Arbeit lesen und finde es sehr beeindruckend wie intensiv sich Nicolle Zwetsch mit dem Thema auseinandergesetzt hat und bin stolz, so eine tolle Mitarbeiterin in unserem Team zu haben“, so Steffi Gebel.
Herzlichen Glückwunsch zum erfolgreichen Abschluss. Warum haben Sie gerade dieses Thema für die Hausarbeit ausgewählt?
Ein erster Kerngedanke zu Beginn dieser Hausarbeit war, dass ich es in meiner Funktion als Wohnbereichsleitung schaffen möchte, meine Mitarbeiter*innen so zu motivieren, dass sie gerne zur Arbeit kommen und qualitativ messbare gute Leistungen bei den Bewohnerinnen und Bewohnern in unserer Einrichtung erbringen. Letztlich war der Unterricht während der Weiterbildung ausschlaggebend. Mir wurde vor Augen geführt, was ich eigentlich schon wusste: dass sich Mitarbeitende an ein Unternehmen binden, wenn sie positive Erfahrungen machen und ihre Erwartungen an den Job vom Unternehmen erfüllt werden. Als Pflegefachkraft erlebe ich täglich den Wahnsinn des akuten und chronischen Mitarbeitermangels in der Pflege - nicht nur im Fachkraftbereich, sondern auch im Bereich der Pflegeassistenz. Alle Pflegekräfte erkennen inzwischen ihren Marktwert und suchen sich entsprechende Betriebe, die nicht nur gute Bezahlung bieten, sondern natürlich auch solche, die sie wertschätzen und wo sie sich wohl fühlen. Reisende soll man nicht aufhalten, das sagte meine ehemalige Vorgesetzte, als ich ihr meine Kündigung überreichte. Sie konnte den Wert all ihrer Pflegekräfte nicht erkennen. Ich bin mir sicher, dass ein Unternehmen nur so gut ist, wie seine Mitarbeiter es sind!
Was sind für Sie die wesentlichen Gründe für die hohe Fluktuation in der Altenpflege?
Ganz oben auf der Liste der Kündigungsgründe steht häufig die fehlende bzw. schlechte Work-Life Balance. Es ist für die Partner*innen der Mitarbeitenden, die nicht in einem Gesundheitsberuf arbeiten, sehr schwierig, die Schicht- und Wochenenddienste mit dem Privatleben unter einen Hut zu bekommen. Versäumnisse bei der Einführung und Integration am neuen Arbeitsplatz sind heutzutage trotz Einarbeitungskonzepten ein häufiger Kündigungsgrund. Weiter kann es dadurch zu schlechtem Betriebsklima und Mobbing innerhalb des Pflegeteams kommen. Wenn es dann noch zu geringer Wertschätzung durch Vorgesetzte und Konflikte mit Kollegen kommt, ist die Kündigung seitens des Mitarbeiters, der Mitarbeiterin, schnell geschrieben. Der Klassiker in der Pflege, die zu hohe Arbeitsbelastung und zu lange Arbeitszeiten, sowie die mäßige Bezahlung oder Unzufriedenheit mit dem Gehalt sind da meist nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen und den Mitarbeiter/die Mitarbeiterin in eine andere Einrichtung bringt. Ein guter Arbeitgeber und gute Führungskräfte sollten dementsprechend alles dafür tun, dass die Mitarbeitermotivation nicht abhandenkommt. Die langjährigen Mitarbeitenden haben ein besseres Durchhaltevermögen. Sie wissen, dass es nach einer Ausnahmesituation wieder besser wird.
Welchen Stellenwert hat Wertschätzung für Sie?
Einen sehr hohen. Ein Blick der Bestätigung, ein Schulterklopfen, ein Lachen. Kleinigkeiten im täglichen Umgang miteinander erleichtern den Arbeitsalltag und tragen zur Motivation bei. „Habe ich ihnen heute schon gesagt, dass ich froh bin, dass sie hier arbeiten“ ist ein fast tägliches Zitat meiner Chefin.
Haben Sie Beispiele für eine gelungene Mitarbeiterbindung?
Das wichtigste Instrument zur Mitarbeiterbindung und Zufriedenheitserfassung sind regelmäßig stattfindende Mitarbeitergespräche. Ich führe gerne einige Beispiele aus Haus am See auf: Die Bürotür unserer Hausleitung ist immer geöffnet. Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin kann immer zur Einrichtungs-, zur Pflegedienstleitung und zu mir als Bereichsleitung kommen und Wünsche, Anregungen und Beschwerden, ob beruflich, privat oder gesundheitlich, kommunizieren. Mitarbeiterjubiläen werden regelmäßig während der Neujahrsbegrüßung gewürdigt. Mindestens einmal im Jahr lädt uns die Einrichtungsleitung zum gemeinsamen Grillen ein und nicht selten stellt sich die Chefin höchstpersönlich an den Grill. Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin erhält zum Geburtstag ein Los der ARD Fernsehlotterie. Meist singt die Chefin selbst auch das Geburtstagsständchen. Unvergessen ist die jährliche Weihnachtsfeier. Neben Andacht und feinem Büffet gibt es kleine, liebevollen Geschenken für alle Mitarbeiter/innen. Ist die Kinder- oder Heimtierbetreuung mal nicht abgedeckt, ist das kein Grund, der Arbeit fernzubleiben. Kinder, Enkelkinder und Haustiere sind auf der Arbeit gern gesehen und ausdrücklich willkommen. Sie bringen Abwechslung in unseren Arbeitsalltag und den Alltag unserer Senioren. Zu erwähnen ist auch noch der jährliche Betriebsausflug, der meist in der ländlichen Umgebung stattfindet. Der Ausflug beginnt mit einer gemeinsamen Wanderung, gefolgt von kleinen Spielchen und endet mit dem gemeinsamen Abendessen. Bisher wurden immer vier Stunden dieses Ausflugs als Mehrarbeitsstunden angerechnet. Als Wohnbereichsleitung gehe ich mit meinem Team einmal jährlich gemeinsam essen und backe Nervennahrung sooft es nur geht.
Innerhalb des Trägers gibt es neben Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten, Corporate Benefits, Jahresgratifikation, Urlaubsgeld und die Zahlung einer betrieblichen Altersversorgung bei der KZVK (Kirchliche Zusatz Versorgungskasse).
Die Abbrecherquote in der Ausbildung gehört branchenübergreifend zu den höchsten. Bedarf es in der jungen Generation anderer Konzepte der Mitarbeiterbindung?
In erster Linie müssen wir junge Menschen für die Pflege begeistern. Es muss dargestellt und auch vorgelebt werden, dass der Beruf einer Pflegekraft so viel mehr ist, als nur Körperpflege. Ich bin der Meinung, dass Azubis gefördert und gefordert werden müssen. Azubis dürfen nicht als billige Arbeitskräfte missbraucht werden. Für sie gelten spezielle Arbeitsgesetze und an die hat sich ein Arbeitgeber zu halten.
Azubis müssen von Anfang an, in den täglichen Ablauf, so wie er wirklich ist, eingebunden werden. Auch Azubis müssen verstanden und ins Team integriert werden. Wir haben gegenüber den Azubis aber auch eine Fürsorgepflicht. An schwere Situationen (z. B. Sterbephase, Tod, schwere Erkrankungen) müssen sie langsam und behutsam herangeführt werden. Es hat auch nicht jeder mit 18 Jahren schon den Führerschein oder gar ein Auto. Auch hier könnten unterstützende Hilfen angeboten werden. (Zuschuss zum Führerschein etc.)
Welche Rolle spielen Gehalt und Prämien?
Viele Pflegekräfte bezeichnen ihre Arbeit als Berufung und das Gehalt wird als sekundär angesehen. Natürlich sollte es nicht unter dem ortsüblichen Durchschnitt liegen und der Pflegekraft zum Leben reichen, sonst ist auch das schönste Dienstverhältnis nicht von langer Dauer. Verlässliche Dienstpläne, spannende Aufgaben und Herausforderungen sowie das Gefühl, mit der eigenen Arbeit einen echten Beitrag leisten zu können, werden von vielen über den monetären Faktor gestellt. Gute Vorgesetzte, funktionierende Teams, nette Kollegen und die Anerkennung für gute Leistung ist sehr wichtig für die Zufriedenheit und das Wohlbefinden der Mitarbeiter/innen. Autonomie und Eigenverantwortung sowie flexible Arbeitszeiten runden diese Aufzählung ab. Schließlich hat sich bereits wieder gezeigt, dass sich auch mit Corona, wenig für die beruflich Pflegenden geändert hat. Es wurde geklatscht und gelobt und Bonus gezahlt, aber verbessert wurde nichts. Doch wir benötigen dringend Reformen, damit die vorhandene Pflegequalität in den nächsten Jahren nicht noch deutlicher abnimmt. Anbieter von Pflegeleistungen können einfach nicht genug Personal gegenfinanzieren. Sicher, finanzstarke Unternehmen können kleineren Betrieben Personal abwerben, denn selbst, wenn der kleinere Betrieb ein tolles Team und ein gutes Betriebsklima hat: Wenn eine andere Einrichtung deutlich mehr geldliche und finanzielle Werte bietet, dann wechselt irgendwann auch der loyalste Mitarbeiter.
„Zum Glück halten wir im Haus am See zusammen und auch das Miteinander im Team, inklusive des Führungsteams, ist unschlagbar“, schlussfolgerte Nicolle Zwetsch am Ende des Interviews.